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In dem bekannten Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zahlt ein Gutsherr seinen Beschäftigten einen Einheitslohn von 1,00 Denar für einen zwölfstündigen Arbeitstag, unabhängig davon, ob die Arbeit pünktlich oder erst zur dritten, sechsten, neunten oder elften Stunde aufgenommen wird.

Mein Onkel Heini hat sie pünktlich aufgenommen, noch vor der Frühstückspause aber wieder unterbrochen, er hat zur zehnten Stunde noch einmal kurz im Weinberg vorbeigeschaut und zur elften ein Attest vorgelegt: mit dem, was man unter einer »geregelten Arbeit« versteht, machte er vor allem dadurch Erfahrungen, dass er sie vermied. Trotzdem wäre er in seiner Lehrzeit beinahe vom Friedrich-Engelhorn-Hochhaus der BASF gestürzt: so gefährlich war für ihn selbst das Heranführen an einen Beruf.

Später nahm er ein Studium auf und studierte, die Eltern begriffen nicht recht, wozu und zu welchem Ende, meinten noch, er plane sich einer Karriere bei der Volksbank zu verschreiben, als er schon nicht mehr Volkswirtschaft, sondern Volkskunde und Pädagogik studierte und an einer Dissertation schrieb, die etwas mit »Friedenserziehung« zu tun hatte.

In der Familie war Onkel Heini, was damals die ersten Grünen im Bundestag waren. Auch im Äußerlichen fiel er aus dem Rahmen: er war der einzige meiner nahen Verwandten, der einen schönen Vollbart hatte, der auch gut zu seinen starken Augengläsern und zu seinem Schmerbauch passte. Von diesen äußeren Vorzügen der Intelligenz war ich ebenso beeindruckt wie von dem Radio, das er mir aus Schrott zusammenbaute, von den vielen Büchern, die er gelesen hatte, und den Autoren, für die er mich mehr begeisterte, als bei meiner langanhaltenden Karl-May-Lektüre zu vermuten war: Brecht, Heinrich Mann, Max Frisch, Böll und Ossietzky. Er schenkte mir Egon Friedells monumentale »Kulturgeschichte der Neuzeit«, die ich bis heute nicht ausgelesen habe. Der interessanteste Titel, der mir beim heimlichen Zugriff auf seine Bibliothek in die Augen sprang, war indes »Lustgewinn in der Ehe«. Auch wenn völlig klar war, dass er den Lustgewinn nie in einer Ehe suchen würde, war ich mir sicher, dass Heini bei Frauen einen guten Stand hatte. Um sie bei Bedarf ausführen zu können, legte er sich einen VW Käfer zu, und eine Garage wurde angemietet, in der das Liebesspielzeug vor sich hin rostete.

Den Gesprächen der Erwachsenen entnahm ich, dass Onkel Heini von einem »Barscheck« lebe, und verstand erst auf Nachfrage, dass man in Wahrheit vom »Bafegg« sprach, dem BAföG also, das er bezog. Auch diese Art des Broterwerbs fand ich vorbildhaft. Einmal versprach er mir, mich zu einem »Schatz« zu führen gleich dem auf der Stevensonschen »Schatzinsel« versteckten, führte mich, den Stubenhocker, in strammem Marsch hinauf auf den Nonnenfelsen am Ortsrand von Hardenburg und verwies, als wir oben standen und hinuntersahen, auf die schöne Aussicht ins Isenachtal: sie genießen zu können, sei so gut wie ein Schatz, den man im Kasten habe. – Einen feuchten Kehricht genoss ich die Aussicht; der Lumbesäggel hatte mich hereingelegt. Einmal war er mir gram, weil er mich des Geheimnisverrats verdächtigte: er hatte in Abwesenheit der Eltern das Telefon benutzt, um mit seiner Freundin zu sprechen. Irgendwie haben sie es erfahren, vielleicht von mir; ich weiß es nicht mehr. Er hat eine Woche lang nicht mit mir geredet: das war meine düsterste Ferienwoche. Seine Freundin starb später bei einem Autounfall. Auf dem verstaubten Bild, das auf seinem Schreibtisch steht, ist sie schön wie eine Eule. Sie sah Nana Mouskouri ähnlich.

Ehe er seine Doktorarbeit abschließen konnte, verstarb die Professorin, die das Projekt betreute und deren Springmäuse er manchmal hütete. Daraufhin ließ er sein Studium auslaufen, zog sich eine Latzhose an und widmete sich seinem Volkswagen. Er zerlegte ihn komplett, erneuerte die Dichtungen und setzte ihn wieder zusammen.

Als die Eltern verstorben waren, kehrte er für kurze Zeit als Arbeiter in die BASF zurück. Er kam fast jeden Tag zu spät, und sein Mittagsschlaf überdehnte die in die Arbeitszeit einberechnete Pause. Im Verlaufe weniger Wochen bildete er zudem so starke allergische Reaktionen gegen verschiedene Chemikalien aus, dass er gezwungen war, sein Engagement in dem Chemieunternehmen zu beenden. Er schlug sich dann noch für einige Semester als Privatdozent und Abendschullehrer für schwer vermittelbare Arbeitslose durch, ehe er sich den kruden Bestimmungen der Hartz-Gesetzgebung auslieferte. Vor der darin legitimierten Zwangsarbeit wusste er sich zu hüten. U.a. wollte man ihn zum Auf- und Abbau der Buden auf dem Bad Dürkheimer Wurstmarkt heranziehen. In fortgeschrittenem Alter sammelte er Beweise und bereitete eine Unterlassungsklage gegen eine Hexe vor, die im Geheimen eine gesundheitsschädliche Strahlenkanone gegen ihn einsetzte.

In seinen letzten Lebensjahren trug er oft einen Strohhut. Er ging nie ans Telefon, sondern wartete immer ab, bis ich anfing, das Band zu besprechen. Seine Ansage lautete: »Dies ist das elektronische Vorzimmer der Nummer 22-91. Sie können nach dem Pieps eine Info hinterlassen. Echo ist möglich.«

Es fiel ihm schwer, Dinge wegzuwerfen. Er sammelte Sperrmüll, Teppich- und Papierabfälle, wodurch sich sein Wohnbereich in dem ererbten Elternhaus immer mehr verkleinerte. Für einen Umbau zum Zwecke der Wohnraumerweiterung lagerte er soviel Baumaterial ein, dass er das Ziel nicht nur verfehlte, sondern das Gegenteil bewirkte. Das Haus wurde nahezu unbewohnbar. Zuletzt verbrachte er seine Freizeit, wie ein Heiliger auf seiner Säule, in einem an das Grundstück grenzenden Steilhang, den er an einer Leiter bestieg und wo er vor dem feindseligen Beschuss mit Gammateilchen besser geschützt war. Dort versuchte er auch Brombeeren anzupflanzen. Er fütterte zwei Katzen, einen Fuchs und einen Waschbären an. Das Katzenfutter kaufte er von seiner dünnen Rente. Er selbst litt manchen Hunger. Auch die Vögel fütterte er und das Mäuslein hinter dem Schuhschrank. Zum Tee, zum Schlafen, zur Tierfütterung und zur Erledigung seiner Post und Rechtsangelegenheiten kehrte er noch regelmäßig in sein Haus zurück. Von der Staatsanwaltschaft erfuhr er keinen Glauben. Die Hexe verstarb hochbetagt und unbehelligt vergangenen Sommer. Zum Tode hin war sie ihm milde gestimmt.

Auf unserem letzten Spaziergang in dieser Zeit musste er sich ein paarmal ausruhen. Er beklagte seine dauernde Müdigkeit. Sein Bart war dünn geworden, die Haare fielen ihm aus, die Lymphknoten des Halses waren geschwollen. Unterwegs fragte uns ein verirrter Pfarrer nach dem Weg zum Friedhof. Onkel Heini erklärte so weitausholend, dass der Geistliche ihn unterbrach: Er habe keine Zeit, er suche lieber alleine weiter. Wir suchten ihn mit dem Gedanken zu trösten, dass er sowieso zu spät sei.

Im Herbst färbte sich Onkel Heinis Haut gelb. Er starb im Alter von 68 Jahren am 6.12.2013 in einer Mannheimer Klinik an den Folgen seiner Strahlenkrankheit. Neben seinem leeren Bett zuhause liegt ein Lehrbuch der Philosophie, zugeschlagen. Fuchs und Waschbär kommen alleine zurecht. Nur, wer füttert die Katzen?

Er habe dem Staat und den Seinen auf der Tasche gelegen, hieß es über ihn. Anders als jene unproduktiven, vermögenden Nichtstuer, die nie die Vögel füttern und denen Walter Wüllenweber in seinem Buch »Die Asozialen« die Leviten las, lag er unbequem.

Ich bin sicher, dass auch Onkel Heini seinen Denar verdient hat, auch wenn er zuletzt keinen Cent besaß. Der Schatz, den er mir zeigte, vermehrt sich beständig: die Macht des Geistes über die Materie; Echo ist möglich.

 

 

 

Den Nachruf verfasste Roman Morweiser.

 

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