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Polemik ist ein Kampfbegriff in der intellektuellen, politischen oder persönlichen Auseinandersetzung. Polemik, zur Sprache gebracht, wird gemeinhin als Vorwurf wahrgenommen, gegen den es sich zu verwahren gilt. – Zu Unrecht, wie ich meine. Polemik ist die Kunst, ein Argument zu schärfen, aber auch: es zu verstümmeln. Polemik ist weder gut noch boshaft und schon gar nicht böse. Schon der Begriff Schwarze Polemik ist daher – Schwarze Polemik, in diesem besonderen Fall, weil er auf die Sache zielt (»ad rem«) statt auf den Menschen (»ad hominem«), weil er also dem Werkzeug ankreidet, wie und wozu es verwendet wird. Denn gut oder boshaft, düster oder edel sind allein die Absichten des Polemikers. Meine kleine Schule der Polemik klammert die edlen und guten aus und wendet sich den interessanten zu.

 

Erste Lektion: der »Strohmann-Bluff«

 

Die Paradedisziplin der Schwarzen Polemik. »Strohmann« nennt man bis ins 19. Jahrhundert eine mannshohe Puppe, die trainingshalber bekämpft wird, ein Ahne des Pappkameraden, der sich Sportschützen, Polizisten oder Soldaten bei heutigen Wettkampf- oder Übungsschießen als Ziel anbietet. Die Übungssituation ist romanhaft realitätsfern, der Strohmann, da steif und wehrlos und unempfänglich zudem für jedes menschliche Mitgefühl, das den Schützen anwandeln und seinen Schuss verwackeln könnte, viel leichter »auszuschalten« als der Feind, den er vertreten soll.

  Der Polemiker macht sich diesen »Vorzug« des Strohmannes zunutze, indem er in einem Streit nicht das von seinem Gegner tatsächlich vorgebrachte Argument angreift, sondern ein davon abgeleitetes, oft selbst konstruiertes »Strohmann-Argument«, das er zerpflückt, lächerlich oder absonderlich erscheinen lässt, um das Publikum oder auch die Gegenpartei zu dem Fehlschluss zu verleiten, er habe deren Argumentation widerlegt.

 

Der »Strohmann-Bluff« kennt viele Spielarten:

 

  • Zum Beispiel kann ich, um die These eines Wissenschaftlers anzugreifen, irgend eine andere Aussage desselben Wissenschaftlers, die er womöglich im Suff getan hat, widerlegen und zu suggerieren versuchen, diese Widerlegung treffe auch die eigentlich anzugreifende These.
  • Ich kann eine These verzerren, vereinfachen oder übertreiben, sodass sie absolut lächerlich wirkt. (Einsteins Relativitätstheorie fand anfangs viele »Strohmann«-Theorien.)
  • Nehmen wir an, ich habe eine unsinnige Theorie entwickelt und ernte dafür verdienten Widerspruch. Nun kann ich darauf hinweisen, dass auch Einstein auf Widerspruch gestoßen sei. Als »Strohmänner« für meine Kritiker dienen mir dabei Einsteins Kritiker, die ja nach unserem heutigem Urteil hinterm Mond lebten. Fehlschluss: Auch meine Kritiker werden wohl unrecht haben.
  • Ich greife wirksam das schwächste Argument der Gegenpartei an und erkläre deren Thesen damit für erledigt, ohne auf ihre stärkeren Argumente eingegangen zu sein.
  • Ich zitiere eine absolute Unperson (sehr beliebter Strohmann: Hitler), die sich zu der These, die es anzugreifen gilt, freundlich geäußert hat.
  • Ich zitiere einen von der Gegenseite anerkannten Star (wenn der Gegner »links« steht, zum Beispiel Rosa Luxemburg oder Karl Marx), der sich zu der anzugreifenden These unfreundlich geäußert hat. – Eine kuriose Variante des »Strohmann-Bluffs«, da ich dem Strohmann hier die Waffe reiche...
  • Ich erweitere oder verallgemeinere eine These, um sie falsch oder gefährlich aussehen zu lassen. Einem, der gegen die Wehrpflicht argumentiert, unterstelle ich, er sei überhaupt gegen die Landesverteidigung. Einem anderen, der meine Schwarze Polemik entlarvt, werfe ich vor, er wolle gar keine Gegenargumente mehr zulassen.
  • Ich erfinde abstruse Analogien zu der anzugreifenden These, um zu suggerieren, dass die These selbst auch abstrus sei.

 

Kaum anzunehmen, dass ein intelligenter Mensch auf solche Taschenspielertricks hereinfalle? Ähnliches sagt man auch von der Werbung: dass sie zu simpel, zu primitiv sei, um zu wirken; und doch scheint sie erfolgreich zu sein.

  Ich bitte meine Leserin, meinen Leser, hier kurz innezuhalten und sich zu fragen, ob die soeben von mir ins Spiel gebrachte Analogie zulässig ist oder nicht. Immerhin könnte man auch meiner kleinen Schule der Polemik strohmännisch vorwerfen, dass sie den Lernenden manipuliere – was sie wohl auch tut, denn es gibt keine sichere Grenze zwischen Lehre und Manipulation, was die Schwarze Polemik zu dem Strohmann-Argument einladen mag, es gebe gar keine. Meiner Meinung nach muss diese Grenze durch eigenes Nachdenken immer wieder gesetzt werden; und das Nachdenken soll eine Schule ihren Schülern überlassen.

  Ich halte die Analogie von Polemik und Werbung für zulässig, insofern sie die Wirkung und die dafür aufgewandten Mittel in den Blick fasst: Werbung will ein Produkt, Polemik eine Meinung »verkaufen« – die Polemik im übertragenen, die Werbung im wörtlichen Sinn –, doch in beiden Fällen besticht nicht die Logik des Arguments, sondern das Design.

  Vielleicht darf ich, um meine Meinung unumstößlich erscheinen zu lassen, einen Star der philosophischen Seminare zitieren?

  In seiner Eristischen Dialektik schreibt Arthur Schopenhauer:

»Gegen logische Gesetze denken, oder schließen, wird so leicht keiner: falsche Urtheile sind häufig, falsche Schlüsse höchst selten. Also Mangel an natürlicher Logik zeigt ein Mensch nicht leicht: hingegen wohl Mangel an natürlicher Dialektik: sie ist eine ungleich ausgetheilte Naturgabe (hierin der Urtheilskraft gleich, die sehr ungleich ausgetheilt ist, die Vernunft eigentlich gleich). Denn durch bloß scheinbare Argumentation sich konfundiren [verwirren], sich refutiren [widerlegen] lassen, wo man eigentlich Recht hat, oder das umgekehrte, geschieht oft: und wer als Sieger aus einem Streit geht, verdankt es sehr oft, nicht sowohl der Richtigkeit seiner Urtheilskraft bei Aufstellung eines Satzes, als vielmehr der Schlauheit und Gewandheit mit der er ihn vertheidigte.«

 

Praktische Übung: einen Strohmann bauen

 

Nehmen wir an, ich bin Religionskritiker und habe in einer Diskussion die These aufgebracht, Gott sei nur das Abbild unserer Wünsche. – Es handelt sich hierbei um die beliebteste These der abendländischen Religionskritik, die sogenannte Projektionsthese. Dass Gott eine »Schöpfung des Menschen«, die Religion »Opium fürs Volk«, »LSD der Fans« oder »Nebenprodukt normaler psychologischer Neigungen« sei, sind Variationen dieser These. Die Behauptung ist dieselbe: Gott existiert nicht; wir wünschen uns nur, dass es ihn gebe. Wir wünschen uns dies, weil wir arm, einsam oder ängstlich sind. Ob unsere Vorstellung von Gott nun ein Quell der Freude, der Beschwichtigung oder zusätzlicher Beängstigung ist, darüber konnten sich meine Mitatheisten bisher nicht verständigen; aber das ist auch eine etwas spitzfindige Frage, die wir heute ausklammern wollen.

  Gott ist nur das Abbild unserer Wünsche. Punktum. – So lautet meine These.

  Mein Gegner greift sie mit den Mitteln der Logik an, indem er feststellt:

  »Ob wir uns wünschen, dass Gott existiere, sagt nichts darüber aus, ob er existiert.«

  Zunächst begnüge ich mich damit, amüsiert den Kopf zu schütteln. Amüsiertes Kopfschütteln ist die Körpersprache der geistigen Überlegenheit, die mit dem Gegner spielt, statt sich auszuspielen: Der Gegenargumente sind so viele und gewichtige, dass ich’s mir leisten kann, sie in meinem Kopf durcheinanderzuschütteln, ehe ich sie vortrage. Da ich jedoch zur Sache (»ad rem«) nichts vorzubringen weiß, entschließe ich mich ein paar Sätze später – denn der Polemiker überlässt sich keinem Diskurs, sondern er designt ihn – zu einem Einwurf, der sich weniger auf das Argument als auf die Person meines Gegners (»ad hominem«) richtet, dem ich inzwischen durch eine kleine Provokation ein Bekenntnis zum Antifaschismus entlockte:

  »Ob wir uns wünschen, dass der Faschismus tot sei, sagt nichts darüber aus, ob er nicht doch unser aller Heil ist.«

  Der Satz ist dem des Gegners nachgebildet, den ich angreifen will; mein Gegner wird diesen Anklang bemerken – und wie mag er darauf reagieren?

  Da er den Faschismus hasst, wird mein Satz ihn zum Zorn, zum Widerspruch reizen. Dies kommt mir zupass, »denn im Zorn ist er außer Stand richtig zu urtheilen und seinen Vortheil wahrzunehmen«, wie schon Schopenhauer wusste. »Man bringt ihn in Zorn dadurch daß man unverhohlen ihm Unrecht thut und schikanirt und überhaupt unverschämt ist.«

  Ein probates Mittel der Schwarzen Polemik sind gezielt eingesetzte, auf des andern mutmaßliche Empfindsamkeiten berechnete Reizwörter wie hier »Faschismus« – aber durchaus auch, in anderem Kontext, »Homo«, »Handwerk« (auf ein Kunstwerk gemünzt), »Pfaffe« oder »Esoterik«, um nur einige Beispiele zu nennen.

  Jedes Wort eignet sich als Reizwort, wenn ich weiß oder Gründe finde, anzunehmen, dass es meinen Gegner emotional berührt, weil ihm das, was es bezeichnet, etwas bedeutet. Es gibt kaum allgemeine Reizwörter oder nur rasch wechselnde, ansonsten fast nur individuelle, weshalb der Polemiker, um sie herauszufinden und anwenden zu können, in besonderem Maß mit Empathie begabt, ja: mitfühlend sein muss. Eine Polemik ohne Mitgefühl ist matt, aufgesetzt, wenig treffsicher: der Grund, weshalb Hitler, auch Goebbels, entgegen einem gängigen Vorurteil, auch als Polemiker allenfalls mittelmäßig waren – ihnen fehlte das Mitgefühl.

  »Ob wir uns wünschen, dass der Faschismus tot sei, sagt nichts darüber aus, ob er nicht doch unser aller Heil ist.«

  Mein Gegner, der erklärte Antifaschist, wird diesen Satz in Bausch und Bogen verwerfen; doch damit verwirft er eine Analogie zu seiner eigenen These:

  »Ob wir uns wünschen, dass Gott existiere, sagt nichts darüber aus, ob er existiert.«

  Und wirft die Analogie, die ich erfand, nicht einen Schatten auf seine These? Muss also, wer den Faschismus ablehnt, nicht auch Gott, nicht auch die Religion ablehnen? Sind nicht Religion und Faschismus mit uneinlösbaren Heilsversprechen befrachtet? –

Eine verführerische Dialektik, der jedoch – wir wissen es bereits – keine Logik beisteht. Wir haben es mit einer klassischen Strohmann-Analogie zu tun.

Dabei könnte sie sich, statt auf den Faschismus anzuspielen, auch auf den Dadaismus, auf die sieben Zwerge oder die Hoden des Papstes beziehen; die Gedanken und Analogien sind frei. Ich wählte die Faschismus-Analogie, weil »Faschismus«, wie erwähnt, für meinen Gegner ein Reizwort ist. Ich hoffte, der Zorn, den es in ihm entfacht, greife so sehr seine Urteilskraft an, dass er die logische Diskrepanz zwischen seiner These und meiner Analogie nicht bemerkt.

Seine These beleuchtet das Verhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit (in bezug auf die Existenz Gottes) und besagt, der Wunsch sei für die Wirklichkeit unerheblich. Ebenso besagt meine Analogie, dass unsere (antifaschistische) Gesinnung unerheblich sei – unerheblich für »unser aller Heil«, was immer das bedeuten mag.

Ich kann, um eine Analogie zu bilden, für »Wunsch« »Gesinnung« setzen, für »Gott« »Führer«, für »Religion« »Faschismus«, doch wenn ich für »Wirklichkeit« »unser aller Heil« setze, verletze ich die Logik der Analogie: In der anzugreifenden These ist vom »Heil« keine Rede, ich habe sie also im Spiegel einer falschen Analogie verzerrt oder gedehnt, um sie polemisch angreifen zu können. – Und wie geschickt ich das tat! Ohne sie zu erwähnen, verbog ich meinem Gegner die These. Und sollte er darauf verfallen, sie richtigzustellen, bremst meine Schwarze Polemik ihn aus: Eine Anspielung ist kein Zitat, also kann sie, hehe, auch nicht falsch sein, oder? –

 

Schwarze Polemik ist Diskussionsschach, für Uninteressierte tödlich langweilig, für Eingeweihte ein Spiel, das höchste Konzentration verlangt und subtilen Lustgewinn verheißt. Jeder Einwand, jede Frage, doch vor allem jede Antwort will wohlüberlegt sein wie ein Schachzug, der die nächsten Züge mit einkalkuliert. Schwarze Polemik ist der Tod jeder Diskussion. Ein Gedankenaustausch kommt nicht in Frage, daher nicht in Gang: Mein Gegner soll meine Gedanken nicht kennen; ein Gedanke, den er errät, verliert an Wert.

  Aber auch diese Analogie hinkt. Beim Schach sind sich die Spieler immerhin über den Charakter und die Regeln des Spiels einig. Dagegen findet sich kaum je ein Polemiker zu dem Eingeständnis bereit, dass seine Vorführung von misslingender Kommunikation nur ein böses Spiel sei. – Zu hoch das Risiko, dass dieses Eingeständnis den faulen Zauber breche, die Stimmung zerstöre? dass man, einmal innehaltend und den Kopf schüttelnd über sich selbst, nicht mehr ins Spiel zurückfinde – wie man, dazu aufgefordert, nicht ernst bleiben kann?

  Es gibt keine Polemiker mehr, möchte man glauben: plötzlich sind sie verschwunden, wie die Nazis, wenn die Russen kommen. Jeder meint es ernst, will ernstgenommen sein – todernst. Bierernst reicht nicht. Den Feind, den ich bis aufs Blut reizte und der mich böse anlallt, Schaum vor dem Mund, gähnt meine Gelassenheit an, so gut gespielt, dass sie echt ist: »Polemik? Interessiert mich nicht...«

[Weitere Lektionen folgen.]

 

Literaturhinweis: Arthur Schopenhauer, Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten. Zürich: Haffmans, 1983.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem Auswurf von Roman Morweiser.

 

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