Mission
       Verschwörung
       Eingebung
       Polemik
       Rechtsprechung
       Aphorismen
       Erotik
       Bewusstsein
       Materie
       Zufall
       Zufallsstreit
       Eisein
       Elite
       Nachruf
       Gästebuch

Vom Zufall

 

Fast alles ist Zufall. Denn Zufall ist alles, was nicht mit Notwendigkeit geschieht, wobei in der Alltagssprache von »größeren« und »kleineren« Zufällen die Rede ist. Die hochwahrscheinlichen Zufälle, die uns auf Schritt und Tritt begegnen, nehmen wir kaum als solche wahr, so »klein« erscheinen sie uns. Und je unwahrscheinlicher ein Zufall, um so »größer« nennen wir ihn. Unser Zufallsbegriff steht und fällt mit der Bestimmung dessen, was uns notwendig erscheint. Dass diese Bestimmung notwendig subjektiv ist, verführt zu der oft vernommenen These, mit der ich mich im folgenden nicht beschwichtigen lassen will: einen objektiven Zufall, einen Zufall an sich könne es nicht geben. – Wie auch, wenn wir voraussetzen, es gebe keine Objektivität, um früher oder später durch irgendeine Hintertür des Glaubens noch höhere Wahrheiten in unsere Feldherrnhallen des Denkens einmarschieren zu lassen?

  Die Bestimmung des Notwendigen, in dessen Silhouette sich das Zufällige einzeichnet, nehmen wir entweder in Abhängigkeit von unserem Kenntnisstand vor, d.h. von unserer Kenntnis der Bedingungen, der Hintergründe, der Voraussetzungen eines Ereignisses, oder wir hören – was bequemer ist – auf den Zuruf eines Chefideologen: Strenge Deterministen kennen keinen Zufall, weil sie alles, was ist, für notwendig erklären. Alles, was ist, erscheint ihnen – so und nicht anders – aus Vorherigem ableitbar. Keine weiteren Fragen – oder sie werden belächelt.

  Die Konsequenzen dieser Weltsicht sind bekannt und lassen sich nicht wegdiskutieren. Wenn die Deterministen recht hätten, gäbe es keinen freien Willen und keine Individualität, da in einer Welt, in der alles determiniert ist, selbstbestimmtes Handeln nur eine Illusion wäre.

  Ebenso wie der Determinismus beinhalten die meisten religiösen oder esoterischen Konzepte ein providentes Prinzip, das für die Autonomie und Individualität des Subjekts gleichermaßen tödlich ist, sei es das einer Vorherbestimmtheit, eines göttlichen Plans oder auch eines in allem Begegnenden wirkenden Sinns unserer Existenz, etwa einer »Aufgabe«, die uns gestellt sei und die wir zu erkennen und zu lösen hätten, um »Erlösung« zu erfahren.

  Das autonome Individuum aber stellt sich seine Aufgaben selbst oder begnügt sich oder gibt sich auf, es reflektiert und entscheidet, d.h. es scheidet das eine Mögliche vom anderen, es setzt Anfänge, was es aber nur kann, wenn nicht alles schon angefangen hat, m.a.W. wenn es im Leben Mögliches gibt, das nicht notwendig ist – mithin auch den Zufall.

Individualität und Willensfreiheit können wir nur reklamieren, wenn wir den Zufall in Kauf nehmen. Nennen wir ihn nicht »blind«, um uns keiner trügerischen Hoffnung hinzugeben, dass er je etwas gesehen hätte oder wieder sehen könnte; nennen wir ihn »dumm« und bilden wir uns nicht ein, ihn verstehen zu können. Der dumme Zufall ist der Garant unseres freien Willens – auch unserer Mündigkeit im übrigen, um eine andere alte Diskussion aufzurühren; denn wie wären wir mündig, wenn wir nicht frei wären, das eine oder das andere zu wollen und zu beginnen?

Auch keine Kreativität, keine Inspiration ohne den Zufall! Denn der Zufall, jener Impuls, der einen Anfang setzt, eine Idee zündet mitunter, – warum sollte er nur zündeln, wenn ein freier Wille es ihm genehmigte?

Ockham rät zur Sparsamkeit mit theoretischen Annahmen. Der Zufall würfelt nicht. Der Zufall zündelt unausgesetzt. Und es ist der Zufall, der uns hoffen lässt, ohne dass wir wüssten, worauf wir Grund hätten zu hoffen. Wenn Gott existiert, was mir noch niemand aus- oder einreden konnte, so begegnet er uns in der Sinnlosigkeit wie der Zufall in der Notwendigkeit. Eine Welt, in der ein offenbarer Sinn waltete, vermisste und kennte ihn nicht. Was wäre hoffnungsloser als eine Welt mit vielleicht einem, doch sonst ohne Anfänge; was wäre vergeblicher, als zu lieben und sich zu bemühen, wenn Bemühung und Liebe schon eingeplant wären?

Doch es gibt keinen Plan, wie wir zu erkennen beginnen. Der Atomphysiker kann nicht vorhersagen, wann ein Atomkern zerfällt, der Evolutionsbiologe nicht, wann es zu welcher Mutation der Keimbahn kommt. – Ich erlaube mir zu glauben (und bitte Theisten und Atheisten wegzuhören): Gott selbst kann es nicht. Er wird von der Evolution soviel verstehen wie ich von den Vorgängen in meiner Leber, und mit einer »Feinabstimmung der Naturkonstanten« wäre er wohl ebenso überfordert wie ich mit der Programmierung meiner Zentralheizung.

Einstein empörte sich über die Unschärfe der Quantentheorie: Gott habe nicht zu würfeln. Die höhere Spielsucht aber lässt sich nur schwer verbergen. Zedlers Universal-Lexicon wähnte, dass Gott beim Lottospiel »entweder die Hände derjenigen, welche die Zettel vor der Ziehung der Lotterie mischen, oder aber die Hände derjenigen, die solche hernach ziehen, dergestalt regiere, dass sie nothwendig so und nicht anders mengen und greifen können.« – Er hätte viel zu tun, zumal wenn er nebenher noch die Wettläufe der Samen- zu den Eizellen zu manipulieren hätte und alle möglichen anderen Spiele zu überwachen: die Jünger, als sie das Los warfen über den zwölften Apostel, die römischen Soldaten, als sie um die Kleider des Gekreuzigten würfelten. Immer zu wissen, wie’s ausgeht: was für einen grausamen Zyniker würde das machen! Ob er seinen Sohn ans Kreuz lieferte, weil er sich sonst zu Tode langweilte?

 Es kann das Leben kosten, sich Feinde zu machen. Man kann sich einen Virus einfangen oder von einem herabfallenden Ziegel erschlagen werden. Der Zufall bedroht unsere physische Existenz zu jeder Stunde, mehr als die Gemeinheit oder das Böse. Doch ich kann mir keine Liebe denken und kein Leben, auch keine göttliche Schöpfung ohne den Zufall. Ich wollte nicht sein in einer Welt, die ihn nicht kennt.

 

Text: Roman Morweiser

[an error occurred while processing this directive]



powered by klack.org, dem gratis Homepage Provider

Verantwortlich für den Inhalt dieser Seite ist ausschließlich
der Autor dieser Homepage. Mail an den Autor


www.My-Mining-Pool.de - der faire deutsche Mining Pool